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Zeitung, 08. Oktober 1996
Stockholm 7. Okt. (Reuter) Der Australier Peter Doherty und der Schweizer
Rolf Zinkernagel, Professor für Experimentelle lmmunologie an
der Universität Zürich und Direktor des gleichnamigen lnstituts,
sind in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet
worden. Ihre Entdeckung, wie das Immunsystem virusinfizierte Zellen
erkennt, sei für die klinische Medizin von grosser Bedeutung,
hiess es in der Begründung des schwedischen Nobelpreiskomitees
am Montag. Doherty und Zinkernagel hatten von 1973 bis 1975 gemeinsam
in Canberra geforscht. Die heute in der Schweiz und in den USA arbeitenden
Preisträger gaben sich überrascht. Der Preis ist mit 1,12
Millionen Dollar ausgestattet.
Medizin-Nobelpreis für einen Schweizer
und einen Australier
Auszeichnung für den Zürcher Immunologen Rolf Zinkernagel
Die schwedische Akademie der Wissenschaften hat den diesjährigen
Nobelpreis für Medizin zwei Immunologen verliehen. Der Australier
Peter C. Doherty und der Schweizer Rolf M. Zinkernagel weden für
ihre wegweisenden Foschungsarbeiten auf dem Gebiet der zellulären
Immunabwehr gewürdigt.
(Tlu)Der Nobelpreis für Medizin geht dieses Jahr an
den Australier Peter C. Doherty und den Schweizer Rolf M. Zinkernagel.
Wie das Karolinska-lnstitut in Stockholm am Montag mitteilte, erhalten
die Wissenschafter den Preis für ihre Entdeckung, wie Zellen
des lmmunsystems virusinfizierte Zellen erkennen. Damit ist zum
achtenmal ein Schweizer Wissenschafter für Arbeiten im Bereich
der Medizin mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Der 52jährige
Zinkernagel leitet seit 1992 das Institut für Experimentelle
Immunologie der Universität Zürich. Der ebenfalls ausgezeichnete
55jährige Australier ist seit 1992 an der Universität
von Tennessee tätig.
Die beiden Preisträger haben die soeben ausgezeichnete Arbeit
in den frühen siebziger Jahren an der John Curtin School of
Medical Research in Canberra, Australien, gemeinsam ausgeführt.
Ihre nun 20 Jahre zurückliegenden Ergebnisse sind für
die heutige medizinische Forschung von grosser Bedeutung. Die Erkenntnisse
bilden die Grundlage für die Entwicklung neuer Impfstoffe.
Daneben lassen sich auch neue Strategien bei der Behandlung von
gewissen Krebserkrankungen auf die grundlegende Arbeit von Doherty
und Zinkernagel zurückführen.
Zwei Arten des Immunsystems
Das Immunsystem ist dazu da, körpereigene Stoffe von
fremden Eindringlingen zu unterscheiden und letztere aus dem Körper
zu entfernen. Das Immunsystem setzt sich zusammen aus den lymphatischen
Organen wie Milz und Lymphknoten sowie den weissen Blutkörperchen,
auch Lymphozyten genannt. Diese Zellen lassen sich in sogenannte
B-Lymphozyten und T-Lymphozyten unterteilen. Während die B-Lymphozyten
in der Lage sind, Antikörper gegen Eindringlinge wie Bakterien
herzustellen und diese ausser Gefecht zu setzen, verfügen die
T-Lymphozyten über ein spezialisiertes Erkennungssystem, mit
dem sie zum Beispiel virusinfizierte Zellen des Körpers erkennen
und beseitigen können.
Als Doherty und Zinkernagel in den siebziger Jahren mit ihren Untersuchungen
begannen, war der Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Immunsystems
bereits bekannt. Unklar war indes, wie die T-Lymphozyten es genau
bewerkstelligten, virusinfizierte Körperzellen zu vernichten.
Um diesen Vorgang näher zu untersuchen studierten die beiden
Wissenschafter Mäuse, die sie zuvor mit Viren infiziert hatten,
welche Hirnhautentzündung auslösen. Wie erwartet, produzierten
die Mäuse bestimmte T-Lymphozyten, die in einem Reagenzglas
die virusinfizierten Zellen vernichten konnten. Zu ihrem Erstaunen
stellten die Wissenschafter aber fest, dass die T-Lymphozyten einer
Maus nicht in der Lage waren, die mit dem gleichen Virus infizierten
Zellen einer anderen Maus abzutöten.
Aus dieser Beobachtung leitete sich das inzwischen zu einem Dogma
erhobene Prinzip der zellvermittelten Spezifität der Immunabwehr
ab: Demnach vermögen die T-Zellen Viren oder andere körperfremde
Strukturen nur dann zu vernichten, wenn diese in Kombination mit
gewissen körpereigenen Proteinen auf der Oberfläche von
Zellen präsentiert werden. Nur wenn T-Zellen also das fremde
Virus und das körpereigene Protein gleichzeitig erkennen, wird
die Immunantwort, welche letztlich zur Beseitigung der virusinfizierten
Zellen führen wird, in Gang gesetzt. Auf diese Weise gelingt
es dem Immunsystem, virusinfizierte Zellen von nichtinfizierten
zu unterscheiden und sie selektiv zu zerstören.
Bedeutung für Autoimmunkrankheiten
Bei den körpereigenen Molekülen, die zusammen mit
dem Virus präsentiert werden müssen, handelt es sich um
sogenannte Transplantationsantigene. Sie spielen auch bei Abstossungsreaktionen
nach einer Organtransplantation eine wichtige Rolle. Durch die von
Doherty und Zinkernagel gemachte Entdeckung wurden eine Vielzahl
von weiteren Forschungsarbeiten in die Wege geleitet, dank denen
das Verständnis für das komplexe Netzwerk einer Immunantwort
heute um einiges zugenommen hat. Die Entdeckung der zellenvermittelten
Immunität hat auch in der klinischen Forschung neue Wege gebahnt.
Das zelluläre Immunsystem spielt nämlich bei einer Vielzahl
von Krankheiten eine wichtige Rolle. Dies trifft nicht nur für
die Infektionskrankleiten, sondern auch für verschiedene Krebserkrankungen
sowie für Autoimmunkrankheiten zu. So versucht man heute zum
Beispiel das Immunsystem zur Verteidigung gegen bestimmte Krebserkrankungen
spezifisch anzukurbeln. Bei Autoimmunkrankheiten möchte man
hingegen die fälschlicherweise gestartete Immunabwehr abschwächen.
Fragen um die antivirale Immunität stehen auch heute noch im
Mittelpunkt von Zinkernagels Forschung. Zusammen mit Professor Hans
Hengartner konnte er vor kurzem nachweisen, dass zytotoxische T-Zellen
mit Hilfe eines Proteins, Perforin genannt, virusinfizierte Zellen
durchlöchern. Anhand eines Mäusemodells versuchen die
beiden Wissenschafter in einem anderen Forschungsprojekt die Entstehung
der Autoimmunkrankheit Diabetes besser zu verstehen.
Der Preisträger im Interview-Stress
(Sli) Für Rolf Zinkernagel ist nach eigener Aussage
der Nobelpreis wie aus heiterem Himmel gekommen. Bereits um die
Mittagszeit kann er sich vor lauter Interview-Wünschen fast
nicht mehr retten. Während ihn Zeitungsjournalisten und Fernsehreporter
mit Fragen über seine Arbeit und seine momentanen Gefühle
bestürmen, klingelt unaufhörlich das Telefon; Kollegen
beglückwünschen ihn, und Fotografen entfachen ein wahres
Blitzlichtgewitter. Doch der frischgebackene Nobelpreisträger
bewahrt Geduld und geniest - wer wird ihm das verdenken - den Rummel,
der ihn in seinem nur ungefähr zehn Quadratmeter grossen Büro
umfängt. Lachend erklärt er, diese in seinem ganzen Labortrakt
ebenfalls herrschende Enge werde zwar manchmal von allen als erdrückend
erlebt, doch sie erleichtere ihm auch den Kontakt mit seinen Mitarbeitern.
Von der Chirurgie zur Immunologie
Zinkernagel wurde 1944 in Basel geboren. Er absolvierte ein
Medizinstudium an der Basler Universität und promovierte 1970
mit einer Arbeit im Bereich der klinischen Neurologie. Direkt nach
dem Staatsexamen heiratete er eine Kommilitonin, die heute als niedergelassene
Augenärztin tätig ist. Die Berufe der Eltern haben ohne
Zweifel die Kinder des Paares geprägt, denn alle drei studieren
ebenfalls Medizin. Der Preisträger selber spezialisierte sich
zuerst auf das Fach Chirurgie, merkte jedoch schnell, dass ihn das
nicht vollauf befriedigte. So kam er 1971 als Teilnehmer des Postgraduate-Kurses
nach Zürich. In diesem Kurs, der übrigens auch heute noch
für an der Forschung interessierte Mediziner angeboten wird,
lernte er unter anderem immunologische Themen und Arbeitstechniken
kennen. Diese gefielen ihm so gut, dass er anschliessend an das
Institut für Biochemie der Universität Lausanne ging und
in der Forschungsgruppe von Henri Isliker über enteropathogene
Bakterien arbeitete. Der ehrgeizige junge Forscher war nun von der
Immunologie so «angefressen», dass er an der Universität
von Canberra als Postdoktorand in Zusammenarbeit mit Peter Doherty
über die Immunantwort des Körpers auf Viren forschte.
Sein weiterer Lebensweg führte Zinkernagel zuerst als Assistenzprofessor
und später als Ordentlichen Professor an das Departement für
Immunpathologie der Scripps-Klinik in La Jolla in Kalifornien. 1979
kehrte der Schweizer in seine Heimat zurück und wurde Professor
für Immunologie am Institut für Experimentelle Pathologie
des Universitätsspitals in Zürich. Hier leitet er nun
gemeinsam mit Hans Hengartner, Professor für Immunologie an
der Universität und der ETH Zürich, eine Gruppe von knapp
dreissig Mitarbeitern. Diesen stelle er, so Zinkernagel schalkhaft
lächelnd, das Labor für täglich 24 Stunden zur Verfügung,
und das sollten sie auch nutzen. Durch seine weltweit anerkannte
Forschungstätigkeit ist der neue Nobelpreisträger Mitglied
in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften, Gutachter in Preiskomitees
und Redaktionsvorstand vieler Fachzeitschriften. Sein eigener Palmarès
umfasst unter anderem so wichtige Ehrungen wie den national sehr
bekannten Cloetta Preis, die Auszeichnung durch das Institute for
Cancer Research in New York, die Ehrendoktorwürde der Universität
in Canberra oder den ihm 1995 zugesprochenen Lasker Award.
Zürich ist ein gutes Pflaster für
Forscher
Zinkernagel blickt nicht nur auf eine sehr erfolgreiche Forschervergangenheit
zurück, auch für die Zukunft hat er, wie er der NZZ im
Interview mitteilte, noch viele Pläne, zum Beispiel im Bereich
der Forschung über neutralisierende Antikörper. Denn das
Gute an seinem Beruf sei, dass man durch ein gelöstes Rätsel
gleich wieder fünf neue Fragen gestellt bekomme. Das Klima
für Forscher in Zürich beurteilt er als sehr gut. Und
bisher konnte der sehr arbeitseifrige Nobelpreisträger auch
nicht über finanzielle Zuwendungen seitens der Universität,
des Kantons, des Nationalfonds und weiterer Geldgeber klagen.
Immer wieder erstaunlich ist die grosse Zahl von Schweizer Nobelpreisträgern.
Zinkernagel führt dies auf sehr gute Ausbildungsmöglichkeiten
und ebenso auf bisher reichliche finanzielle Unterstützung
junger Forscher zurück. Diese könnten sich dank den Stipendiengeldern
einige Forschungsjahre in anderen Teilen der Erde, vor allem in
den Vereinigten Staaten, leisten und somit wertvolle Erfahrungen
sammeln. Denn exzellente Forschung sei, wie sein eigenes Beispiel
zeige, immer das Ergebnis internationaler Zusammenarbeit, betonte
Zinkernagel Doch er bemerkt gegenwärtig eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit
in der Schweiz. Mit seinem nun schlagartig gestiegenen Bekanntheitsgrad
möchte er mithelfen, die Kommunikation mit der öffentlichkeit
zu verbessern. Er wies darauf hin, dass die Hälfte seiner Arbeitsgruppe
mit der Forschung aufhören müsste, wenn die Genschutzinitiative
angenommen würde. Die ersten Glückwünsche von Universitätsleitung
und ETH erhielt der Immunologe bereits anlässlich eines eiligst
anberaumten Apéros sowie an einer Pressekonferenz am Nachmittag.
Was er nun mit der Preissumme zu tun gedenke, konnte der Nobelpreisträger
jedoch noch nicht sagen, denn er habe noch keine Zeit zum Nachdenken
gehabt.
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