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Quadratur eines Dreiecks

Julian Schmidli fragt in seinem Debüt «Zeit der Mauersegler» nach Möglichkeiten gegenwärtiger Männlichkeit und nimmt weitere drängende Fragen der Zeit mit auf seinen literarischen Roadtrip. Hält der Cinquecento seiner Figuren dieser Beladung stand?

Von Melanie Rothaupt
17. Mai 2024

Nino fühlt sich verraten. Von seinem besten Freund Tschüge, der ihrer Freundschaft die Liebe vorzog und von Leila, die ihm Tschügge vorzog. Julian Schmidlis Debütroman Zeit der Mauersegler nimmt sich diese Dreiecksbeziehung vor. Sein Protagonist hadert mit der Liebe, seiner Familie und der Heimat, einem Kaff in den Oberländer Alpen. Besonders das Verhältnis zu seinem Vater ist angeschlagen. Als Kind tut sich der träumerische Nino schwer damit, der Mann zu sein, den sein Vater in ihm sehen möchte. In dieser rauen Welt legt sich Nino eine Maske zu, nennt sich fortan Belmondo, nach dem französischen Schauspieler. Denn nach dem Konsum von Belmondo-Filmen fühlt er sich stark: «Mein inneres Orchester reduzierte sich auf die Pauken, die meinem Herzschlag den Takt vorgaben, bum, bum, bum, entschieden und klar, das Herz eines Mannes.» Aber Nino spürt, dass auf seiner Familie ein tieferes Trauma lastet, von Vater zu Sohn weitergegeben. Ein totgeschwiegenes Trauma, das schon seinem Paten Salvi das Leben gekostet hat.

Gebrochene Herzen, verratenes Vertrauen und Generationstraumata: Schmidlis Roman legt den Finger dorthin, wo es wehtut. Unbarmherzig seziert er männliche Rollenbilder und destruktive Verhaltensmuster. Obwohl der Klappentext einen Roadtrip ankündigt, nimmt sich der Roman zuerst Zeit, ein differenziertes Bild von Ninos Kindheit im trägen Heimatdorf und von seiner Gegenwart als in Frage gestellter Mann zu zeichnen. Vor dem Horizont der Debatte um toxische Männlichkeit muss sich Nino fragen, was das Herz eines Mannes in unserer heutigen Zeit für ihn bedeuten soll. Frauen bleiben bei der Befragung von Geschlechter-Rollen eher im Hintergrund, treten nur als passive Mütter oder Liebhaberinnen auf. Der Roman verschreibt sich ganz der Untersuchung einer Männerfreundschaft und einer Vater-Sohn-Dynamik, die sich durch das ganze Buch zieht. Die angekündigte Action des turbulenten Trips beginnt erst nach rund einem Drittel des Buches, als alles hoffnungslos verworren und verloren scheint.

Zum Autor

Julian Schmidli, geboren 1985 in Kalifornien, aufgewachsen in Luzern, ist Autor, Journalist und Filmemacher. Sein Debütroman «Zeit der Mauersegler» erschien 2023.

Als Tschüge ihn bittet, sein Trauzeuge für die Hochzeit mit Leila zu werden, kann Nino nicht ablehnen. Neun Tage haben die beiden ungleichen Männer Zeit, um in Ninos Fiat Cinquecento Giardiniera in den Kosovo, Leilas Heimat, zu fahren. Inspiriert von seinen eigenen Reisen lässt Julian Schmidli das ungleiche Gespann auf einen rasanten Roadtrip durch die Alpen, Italien und den Balkan fahren. Das erinnert, wie schon der Titel andeutet, nicht zufällig an Herrndorfs Tschick.  Vogelfrei sind Nino und Tschüge unterwegs, ein waghalsiges Abenteuer folgt dem Nächsten. Mauersegler eben: «Immer im Aufwind, immer in Bewegung. Mit siebenhundert Schlägen in der Minute durchs Leben – bis zum letzten Fall.»

Mit dem Beginn der Reise gewinnt auch das Erzähltempo an Fahrt. Nicht nur das winzige Auto schaukelt von Schlagloch zu Schlagloch, sondern auch die Freundschaft der jungen Männer. Allerdings kocht bei der Rettungsmission ihrer Beziehung ihre Vergangenheit immer wieder hoch und sorgt für Spannungen. Vor allem Nino ist in dem engen Cinquecento mehr denn je mit seinen eigenen Problemen konfrontiert. Formal folgt der Roman einem bekannten Muster: Eine Reise in die Fremde wird zur Reise zu sich selbst. Der Protagonist muss erkennen, dass seine Belmondo-Maske ihn mehr hindert als vorwärtsbringt. Um Nino zu werden, muss er Belmondo zum Sterben im Balkan zurücklassen und sich dem wirklichen Leben stellen.

Zwar gelingt es dem Roman, Ninos persönliche Entwicklung vielschichtig und nachvollziehbar zu illustrieren, während am Autofenster eine noch immer vom Krieg gezeichnete Landschaft vorüberzieht. Thematisch aber beschäftigt sich die Geschichte dann doch mit zu vielen aktuellen Fragen. Die Ungerechtigkeit von Krieg und das daraus entstandene Leid der Menschen fügen sich in eine lange Reihe grosser Themen, die Nino und Tschügge auf ihrer Reise begleiten. Mit dieser ambitionierten Zeitdiagnostik lädt sich der Freundschaftstext mehr Gepäck auf, als er transportieren kann. Denn anders als die zentrale Männlichkeits-Debatte müssen diese zum Nachdenken anregende Fragen nach Migration, Kriegsflucht und dem Kampf um Gerechtigkeit des Einzelnen hinter den beiden auf der Strecke zurückbleiben, als sie sich ihrer eigenen Zukunft widmen. Dieses Übergepäck ist nich untypisch für Debüts, so dass abzuwarten bleibt, wohin Schmidli sich als Erzähler entwickeln wird. Ein Anfang ist gemacht.

Julian Schmidli: Zeit der Mauersegler. 272 Seiten. Zürich: Kein und Aber 2023, ca. 30 CHF.

Zum Verlag